
katzenjammer
foto: n. bengelsdorf
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am ende kommt immer der katzenjammer, sagt seine oma immer. egal zu welchem anlass, egal zu wem, egal warum – am ende, katzenjammer. manchmal traut er sich schon gar nicht mehr, ihr etwas zu erzählen, sie würde die schönheit darin nicht erkennen, seine freude ignorieren, seine aufgeregtheit mit diesen sechs worten zerstören. am ende kommt immer der katzenjammer. egal was du versuchst, egal was du tust, egal wie sehr du dich darüber freust, das ende ist immer eins mit schrecken. das glas ist nicht halbvoll, es ist noch nicht einmal halbleer, es ist eigentlich schon jetzt leer, du weißt es bloß noch nicht. deswegen brauchst du es auch nicht zu genießen.
vielleicht hat er deswegen angefangen, geige zu spielen. am anfang klang es immer wie katzenjammer, vielleicht würde es am ende nicht mehr so klingen. wenn er es umkehren könnte, den jammer zu beginn und die freude zum schluss, vielleicht würde seine oma ihm dann einmal glauben, dass es nicht so ist, wie sie immer sagt. siehst du es denn nicht, oma, hörst du es denn nicht? die ganze welt zeigt dir doch, dass du unrecht hast. am ende kommen die schönen töne, doch erst der marsch durch alle schiefen töne dieser welt lässt sie erstrahlen. es wird nicht alles jammern, nicht alles zähneknirschen sein.
am liebsten geht er zum spielen in das leerstehende haus am ende der straße. wenn die sonne durch die fenster fällt, dann fühlt er sich entrückt von allem um ihn herum. seine musik hallt von allen wänden wieder und sie beflügelt ihn im wahrsten sinne des wortes. sie lässt ihn herauffahren in ungeahnte höhen, in höhen, die ihn einsam machen, glücklich einsam. er ist umringt von tönen wie von wolken und engeln und schönheit und glanz. er wird immer kleiner und gleichzeitig immer größer. die welt entrückt sich in einer unfassbaren geschwindigkeit und kommt zur gleichen zeit auf ihn zu. ihm wird fast schwindelig, bis sein blick sich weitet und er die wunder der erde sieht. er sieht länder und kontinente und während er spielt, entwirft sich vor seinen augen ein neues gesicht der erde.
das wahre gesicht der erde, der welt um ihn herum, taumelt ihm nach dem letzten ton immer hilflos entgegen. wenn er den bogen absetzt, die letzten töne durch die kaputten scheiben davonflirren sieht, wenn er langsam die geige senkt, dann sieht er all die dinge wieder in ihrer gegenwärtigkeit, die sich zuvor verklärt hatten. ein wenig ist es doch wie katzenjammer, denkt er. wenn die musik aufhört, dann leidet immer irgendetwas in ihm, irgendetwas stirbt und das wahre leben kann es nicht aufwiegen.
dann dreht er sich um und er sieht die wand mit den rissigen farbschichten und den abgeblätterten stellen. und er sieht die erde wieder, die er kurz zuvor im taumel der musik noch so deutlich und schön von oben sah. sie ist immer noch da. die leeren stellen, dort, wo die farbe fehlt, sie sehen aus wie kontinente. das meer ist rötlich braun, die länder sind weiß, hier und da ist ein see zu erkennen. vorhin sah es noch soviel lebendiger aus, jetzt sind es nur stellen auf einer wand, die so aussehen wie etwas. und doch macht es ihn froh. es war keine einbildung seiner phantasie. er ist kein derwisch, der sich dreht und dreht und dreht und dinge sieht, die es nicht gibt. die länder sind da, auch wenn niemand weiß, dass sie länder sind. er sieht sie und er weiß, sobald er die musik wieder spielt, werden aus den kahlen flecken wieder belebte stätten. sobald ihn die musik wieder in höhere sphären zieht, sieht er wieder den wahren charakter der risse und löcher der wand.
dass er sie ohne musik nur erahnen kann, ist ein jammer. aber kein katzenjammer, denn diese reise hat kein ende.
derGarfunkel - am Dienstag, 17. November 2009, 09:36